Spontane Streikwelle in der Türkei

 

15.10.2015

 

Die Türkei wurde ebenfalls vor kurzem von einer wichtigen Streikwelle erschüttert. Am 17. Dezember 2014 hat die unternehmerfreundliche und mafiaartige Gewerkschaft Türk-Metal Is mit der Metall-Kapitalist/inn/enorganisation ein Abkommen für drei Jahre unterschrieben, die eine Lohnerhöhung von 3% vorsah… in einem Land, wo es eine Inflation von 25 % gibt.

 

Gewöhnlich werden die Kollektivverträge für eine Dauer von nur zwei Jahren unterzeichnet. Die 175.000 Mitglieder der Gewerkschaft waren selbstverständlich nicht befragt worden. Aber sie drückten ihren Zorn auf verschiedenen Arten und Weisen aus. In einigen Fabriken insbesondere bei Renault wurden die Gewerkschaftsführer und die Vorgesetzten öffentlich in Frage gestellt. Anderswo ließen sich die Arbeiter den Bart wachsen oder sie machten in der Betriebskantine einen großen Lärm mit dem Geschirr, oder sie boykottierten sogar die Kantine.

 

Angefangen hat es dann am 15. April in einer Fabrik von Bosch in Bursa, einer großen Industriestadt südlich von Istanbul. Hier haben die Arbeiter/innen in einem kurzen, entschlossenen (und dennoch verbotenen) Streik rund 130 Euro Lohnerhöhung (rund 20%) durchgesetzt. Und trotz der opportunen Diskretion der Medien über diesen Erfolg zirkulierte die Information sehr schnell in den benachbarten Fabriken insbesondere im Renault-Werk.

 

Anfang Mai beschlossen einige Arbeitende dieser verschiedenen Fabriken, die Gewerkschaft Türk-Metal Is zu verlassen. Aber in der Nacht vom 5. Mai mussten 16 Arbeiter von Renault feststellten, dass ihr Magnet-Betriebsausweis nicht mehr funktionierte. Sie konnten nicht mehr reingehen. Tatsächlich waren sie entlassen! Dieser Fall war aber von den Arbeitenden von Renault vorhergesehen worden und die Nachtschicht verweigerte die Arbeit. Und die Spätschicht blieb im Betrieb, um sie zu besetzen. Dann kam der Fabrikleiter mitten in der Nacht, um mitzuteilen, dass die 16 Arbeiter wieder eingestellt waren, und dass er bezüglich der Löhne die Konzernleitung in Paris fragen werde.

 

Aber am 14. Mai meldete die Betriebsleitung, dass sie die Löhne nicht verbessern könnte. Am nächsten Tag weigerte sich die Nachtschicht in die Fabrik hineinzugehen und versammelte sich draußen, während die Spätschicht drinnen blieb, um die Werkshallen zu besetzen. Dann schloss sich auch die Frühschicht an. Am 15. Mai war also die ganze Produktion eingestellt und die Fabrik besetzt.

 

Mehrere Monate lang hatten die Arbeitenden von Renault die Bewegung heimlich vorbereitet. Sie wählten so neue Delegierten, die das Vertrauen von allen hatten. Jede Einheit von 20 Arbeitern ernannte einen Delegierten. 24 Delegierte insgesamt vertraten alle Abteilungen und die 5.000 Arbeiter des Standortes. Unter dieser 24 hatten acht die Aufgabe, den Kontakt mit der Leitung und den Behörden durchzuführen.

 
Was die Streikenden betrifft, um die Herausforderungen und Infiltrationsversuche der Leitung und der Behörden zu vereiteln, kontrollierten sie alle in die Fabrik führenden Eingänge, um nur diejenigen hinein zu lassen, die über eine Karte der Fabrik verfügten. Später kontrollierten sie bei den Karteninhabern auch die Loyalität zu den Arbeitern. Enttarnte Spitzel der Leitung wurden aus dem Werk geworfen.

 

Aber nicht nur bei Renault hat der Erfolg der Bosch-Arbeiter/innen anderen Mut gemacht, und der Streik hat sich immer weiter ausgebreitet: auf Fiat und andere Metallbetriebe in Bursa, dann auf andere Städte, auf Ford in Izmit, Türk Traktör in Ankara und schließlich Betriebe ganz anderer Branchen wie die Raffinerie Petkim. Dutzende Betriebe mit zehntausenden Arbeiter/inne/n streikten und viele von ihnen hielten die Fabrik Tag und Nacht besetzt.

 

Die Arbeiter/innen haben gestreikt, obwohl es verboten war. Denn in der Türkei gilt, was jetzt auch in Deutschland eingeführt wird und wogegen sich die Lokführer monatelang gewehrt haben: Nur die größte Gewerkschaft eines Betriebs darf verhandeln und zum Streik aufrufen, allen anderen ist es verboten. Gemeinsam mit Unternehmern und Regierungsvertretern drohten sie: „Wir werden euch für diesen illegalen Streik entlassen und verklagen.

 

Doch die Arbeiter/innen ließen sich nicht einschüchtern. Und nach einiger Zeit bekamen die Unternehmer/innen Angst. Denn die Streikenden besetzten ihre Betriebe und gehorchten niemandem mehr außer sich selbst. Sie hatten die Gewerkschafter von Türk Metal-İş rausgeschmissen. Stattdessen wählten sie in einigen Fabriken ein Komitee aus Arbeitskolleg/inn/en, das den Streik organisierte und verhandelte – und zwar unter der Kontrolle der Streikenden. Alle wichtigen Fragen wurden in Versammlungen aller Streikenden entschieden.

 

Doch was für die Bosse noch viel beunruhigender war: Die Streiks begannen, sich spontan und unkontrollierbar auf immer mehr Betriebe und Städte auszuweiten. Deshalb und weil Wahlkampf war, traute sich die Regierung auch nicht, die Armee gegen die Streikenden einzusetzen. Sie hatte Angst, damit erst Recht einen Flächenbrand auszulösen.

 

Damit die Streiks wieder enden, haben die Bosse daher schon nach kurzem echte Zugeständnisse gemacht. Sie haben sofort Prämien von 500 Euro und mehr gezahlt, haben monatliche Lohnerhöhungen versprochen und außerdem die von den Streikenden gewählten Vertreter offiziell anerkannt. Aus Angst vor einer Ausweitung der Streiks hat es in manchen Betrieben wie in Izmir gereicht, dass die Arbeiter/innen einen Aufruf zum Streik verteilten – und schon bekamen alle Arbeiter 330 Euro Prämie gezahlt.

 

Bei Renault haben die Arbeitenden am 27. Mai, nach 13 Streiktagen und Besetzung ihres Werkes, die Arbeit wieder genommen. Die Betriebsleitung hat ziemlich viele Sachen aufgegeben: keine Strafmaßnahme nach dem Streik; die Zahlung der 13. Streiktage; die offizielle Anerkennung der von der Arbeitenden gewählten Delegierten als Gesprächspartner; das Recht der Arbeitenden, frei ihre Gewerkschaft zu wählen; eine Abfindung eines Monatsgehalts; eine zweite Jahresprämie von ungefähr einem Drittels des Monatslohns; und das Versprechen, die Löhne zu erhöhen. Und Ende Juni hat sie schließlich permanente Zulagen bis zur nächsten Tarifrunde, Anfang 2017, angekündigt. Das entspricht 80 Euro pro Monat für die höheren Gehälter, 120 Euro für die niedrigeren. Das entspricht auch einer Lohnerhöhung von 20%. Und sie hat auch die Abschaffung der Sonntagsarbeit und der täglichen Überstunden angenommen.

 

Die Streiks in der Türkei haben so konkret etwas verändert. Doch mehr noch zählen die Erfahrungen, die die Arbeiter/innen in ihnen gemacht haben. Denn solche Streiks sind genau die Waffe, mit denen sie sich gegen ihre Bosse und gegen arbeiterfeindliche und diktatorische Maßnahmen der Regierung wehren können.

 

Und die Kampfbereitschaft ist unversehrt geblieben. Zum Beispiel, da die Arbeitenden von Renault Bursa fürchteten, dass die Werksleitung einige von ihnen während der Sommerpause entlassen könnte, wie sie dies in der Vergangenheit schon getan hat, haben sie erneut ihre Macht bewiesen. Am 11. August, am Tag vor der Sommerschließung des Werkes haben sie in allen Werkshallen demonstriert, schreiend: „Wir gehen in Urlaub alle zusammen und am 24. August sind wir alle zusammen wieder da“. Und am Tag der Wiederaufnahme der Arbeit haben sie sich vor den Toren des Werkes, Schicht nach Schicht, gesammelt und die Zeit genommen, um zu überprüfen, ob alle Kolleg/inn/en von allen anwesend waren, bevor sie alle zusammen reingehen. Die Produktion startete erst später.

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