Die so genannten Lohn-Preis-Abkommen spielten eine zentrale Rolle für den kapitalistischen Wiederaufbau der Wirtschaft. Die Lohnentwicklung wurde deutlich hinter der Preisentwicklung zurückgehalten. Durch die damit verbundene Einschränkung des privaten Konsums wurden Kapitalbildung und Staatssanierung ermöglicht. Währungsreform, Inflation und Lohnraub bedeuteten eine Umverteilung auf Kosten der arbeitenden Massen, deren Lebensstandard ohnehin ärmlich war. Die Lohnraub- und Preiserhöhungsabkommen wurden von SPÖ und ÖGB-Führung voll unterstützt. Die KPÖ hatte anfänglich die Politik des kapitalistischen Wiederaufbaus voll mitgetragen, nahm aber mit dem Ausbruch des Kalten Krieges zwischen den westlichen, imperialistischen Mächten und der Sowjetunion eine kritischere Haltung ein.18
Bereits gegen das 3. Lohn-Preis-Abkommen hatten 1949 am Rathausplatz in Wien über 100.000 Arbeiter/innen protestiert. 1950 wurden in den Wochen vor dem Abkommen in 88 Betrieben verschiedener Branchen Lohnerhöhungen zwischen 15 und 30% gefordert, um die Preiserhöhungen einigermaßen abzugleichen. Als in der öffentlichen Debatte dennoch nur von 10% die Rede war, wurde die Stimmung in der Arbeiter/innen/klasse brüskiert und der angestaute Unmut der letzten Jahre brach sich Bahn.
Ab Montag, dem 25. September, versammelten sich die zornigen Belegschaften in den Betrieben. Immer wieder wurde nach spontanen Betriebsversammlungen die Arbeit kurz niedergelegt, insbesondere in der VOEST in Linz. Auch am nächsten Tag ging die stärkste Initiative von Oberösterreich aus, nämlich von zwei Betrieben in der US-amerikanischen Besatzungszone: Die Steyr-Werke traten in den Streik und am Stadtplatz in Steyr demonstrierten 15.000 Arbeiter/innen. In Linz streikten die VOEST, wo der Streik sowohl von der KPÖ als auch vom rechtsgerichteten Verband der Unabhängigen (VdU) unterstützt wurde, aber überwiegend spontanen Charakter hatte, sowie der öffentliche Verkehr.
In Niederösterreich gab es Streiks und Demonstrationen in Wiener Neustadt (Rax-Werke und Radiatorenfabrik), Ternitz (Schöller-Bleckmann), im Traisental, in St. Pölten (Voith-Werke und Glanzstoffwerke), Neunkirchen, Wimpassing, Mödling, Krems, Korneuburg, Amstetten und Zistersdorf. In Wien waren an diesem Tag vor allem Fabriken in Floridsdorf, Stadlau, Favoriten und Atzgersdorf beteiligt, also vor allem solche der sowjetischen Besatzungszone. Zwei Demonstrationszüge mit jeweils etwa 15.000 Teilnehmer/inne/n bewegten sich aus Favoriten beziehungsweise der Leopoldstadt auf das Regierungsviertel zu, am Ballhausplatz waren es dann nur noch etwa 6.000, dennoch wurde die anrückende Polizei in die Flucht geschlagen. Einige Demonstrant/inn/en kletterten auf ein vor dem Bundeskanzleramt aufgestelltes Baugerüst. Bundeskanzler Figl und Außenminister Karl Gruber gerieten offenbar in Panik und verhandelten mit den US-Besatzern über einen Einsatz von deren Armee gegen die Demonstrant/inn/en. Schließlich bewegte der KPÖ-Abgeordnete Ernst Fischer die wütende Menge zum Abzug vom Bundeskanzleramt.19
Insgesamt streikten am 26. September bereits je 60.000 in Oberösterreich und Niederösterreich und 50.000 in Wien, während in der Steiermark die Lage noch ziemlich ruhig blieb. Die SPÖ-Betriebs-räte stellten sich entweder gegen den Streik oder wurden vom Druck der Basis mitgerissen – teilweise ehrlich erbost über den Preistreiberpakt, teil-weise bürokratisch motiviert, um nicht den Einfluss auf die Belegschaften zu verlieren. Die Reaktion der von der spontanen Bewegung überraschten SP-Gewerk-schafter/innen in den Betrieben war also anfänglich uneinheitlich. Die KPÖ geriet so in eine zentrale Rolle, vor allem in der sowjetischen Besatzungszone, also in Wien und Niederösterreich, wo sie unter dem Schutz der sowjetisch verwalteten USIA-Betriebe agieren konnte (und keine nachteiligen Folgen befürchten musste) und wo die österreichische Polizei angesichts der anwesenden sowjetischen Truppen zurückhaltender auftrat.
Auch am 27. September war Oberösterreich das Zentrum des Streiks, insbesondere Steyr, wo neben den Steyrer-Werken weitere 19 Betriebe streikten und ein Streikkomitee gewählt wurde. In den Steyrer-Werken dominierten durchaus auch die SPÖ-Betriebsräte (14 Mandate), während die KPÖ eine starke Minderheit stellte (8 Mandate); bei den Demonstrationen gingen SP- und KP-Betriebsräte gemeinsam an der Spitze des Zuges. In Linz streikten neben der VOEST und dem Verkehr auch die Stickstoffwerke und die Elektro-Bau-AG. Die Arbeiterkammer wurde besetzt, dem regierungsloyalen AK-Präsidenten gedroht, ihn aus dem Fenster zu werfen. Außerdem gab es in Oberösterreich Streiks in Lenzing, in Attnang-Puchheim und im Bergbaurevier Wolfsegg.
In der Steiermark kam die Bewegung nun erst in Fahrt. In Graz marschierten 12.000 Arbeiter/innen der Großbetriebe ins Stadtzentrum. Darüber hinaus gab es Streiks und Protestdemonstrationen in Donawitz, Zeltweg, Knittelfeld und Voitsberg. In Salzburg wurde auf der Kraftwerk-Großbaustelle in Kaprun, in Lend und Hallein gestreikt. Auch in Niederösterreich und Wien ging der Streik weiter, in Wien wurden Bezirksstreikkomitees in Floridsdorf und Stadlau formiert. Am 27. September erreichte der Streik die zahlenmäßig größte Ausdehnung. 150-180.000 Arbeiter/innen in 300-320 Betrieben waren im Streik; damit waren etwa 40% der österreichischen Industriearbeiter/innen/schaft am Ausstand beteiligt.20
Die KPÖ freilich war überrascht von der spontanen Dynamik der Streikbewegung. Sie hatte erst für den 2. Oktober ein organisiertes Auftreten der Arbeiter/innen/schaft unter der Losung „Nieder mit dem Preistreiberpakt!" vorbereitet. Weil man eine volle und unkontrollierte Konfrontation mit Regierung und den westlichen Besatzungsmächten scheute und weil auch die USIA-Direktoren (wegen der Planerfüllung für die Sowjetunion) gegen weiter andauernde Streiks waren, trat die KPÖ nun für eine „Unterbrechung" der Streiks ein. Zuerst das KP-Zentralkomitee und dann eine von ihm initiierte Betriebsräte/innen/konferenz in Liesing-Atzgersdorf beschloss, den Streik mit dem Abend des 27. September abzubrechen, am 30. September eine gesamtösterreichische Betriebsrätekonferenz durchzuführen, um über eine Neuaufnahme der Streiks ab Anfang Oktober zu entscheiden.
Am 28. September nahmen alle Fabriken Wiens und Niederösterreichs die Arbeit wieder auf. Allerdings kostete es den KP-Funktionären im niederösterreichischen Mostviertel einige Mühe, den Streik gegen den erbitterten Widerstand einiger Fabrikbelegschaften (Feinstahl und Temperwerk in Traisen, Feilenfabrik in Furthof, Böhlerwerke im Ybbstal) tatsächlich abzubrechen. Bei Waagner-Biro in Wien-Stadlau wurde weiter gestreikt.
Gleichzeitig gingen in der britischen Besatzungszone (Steiermark) und der US-amerikanischen (Ober-österreich) etliche Streiks weiter: In Graz waren weiterhin Andritz, Waagner-Biro, Puch, die Waggonfabrik und die Glasfabrik Göstling im Ausstand, in Donawitz begann der Streik erst richtig. In Oberösterreich standen noch immer 43 Betriebe still, davon 24 im Bezirk Steyr. In Linz streikte die VOEST weiter, während die Stickstoffwerke die Arbeit wieder aufnahmen. Am Nachmittag beschlossen Vertreter/innen der oberösterreichischen Betriebe, den Streik bis 4. Oktober zu unterbrechen.21
Die offizielle Begründung für die Streikunterbrechung war, dass man den Streik für Anfang Oktober besser vorbereiten wollte. Tatsächlich fand das Gegenteil statt: Die Dynamik der Streikbewegung wurde gebrochen und es kam zu einem Mobilisierungsrückgang. Die Initiative ging verloren und erst dadurch entstand für ÖGB-Führung, SPÖ, bürgerliche Medien und Regierung die Möglichkeit für eine massive antikommunistische Hetzkampagne und die Entstehung der „Putsch"-Lüge. Es begannen Repressalien durch die Kapitalist/inn/en, den Staat und die ÖGB-Bürokratie. Erst durch die „Unterbrechung" und den Niedergang des Streiks konnte das alles in Gang kommen.
Der erste, der von einem „Putschversuch der Kommunisten" daherredete, war der Sozialminister und Obmann der Metallergewerkschaft Karl Maisel. Diese Idee wurde von Bundeskanzler Leopold Figl (ÖVP), Innenminister Oskar Helmer (SPÖ), dem ÖGB-Präsidenten Johann Böhm (SPÖ) und der gesamten bürgerlichen Presse dankbar übernommen – ohne irgendwelche Beweise dafür vorzulegen. Die Beschwichtigungsparolen der KPÖ vermischten sich nun mit der hysterischen antikommunistischen Propaganda. Am 29. September wurde (abgesehen von Andritz und Vaemag in Graz) nur noch in Oberösterreich gestreikt, vor allem in Steyr; in Linz war nur mehr die VOEST im Ausstand und in Ranshofen wurde das bestreikte Aluminiumwerk von der Gendarmerie besetzt, wobei auch US-Jeeps als Drohgebärde auffuhren.22
Staat, Medien, Sozialdemokratie und Gewerkschaftsspitze schossen nun aus allen Rohren gegen die von der KPÖ initiierte „Gesamtösterreichische Betriebsrätekonferenz" am 30. September. Insbesondere wurde Druck auf SP-Betriebsräte und SP-Arbeiter/innen ausgeübt, damit sie nicht an der Konferenz teilnehmen; es wurde sogar versucht, Delegierte auf den Bahnhöfen abzufangen und ihre Weiterfahrt zur Konferenz zu unterbinden. Unter diesen Umständen war die Konferenz in der großen Montagehalle der Floridsdorfer Lokomotivfabrik dennoch ein beachtlicher Erfolg: 2.417 Delegierte nahmen teil, darunter immerhin etwa 800 SP-Betriebsräte. Alle wesentlichen Industriezentren waren vertreten, in denen zuvor in hunderten Betriebsversammlungen die Delegierten gewählt worden waren.
Allerdings waren auch sehr schnell die Schwächen der Konferenz sichtbar: Die anwesenden Sozialdemokrat/inn/en verhielten sich nur beobachtend, meldeten sich kaum zu Wort und enthielten sich bei den Abstimmungen der Stimme; etliche von ihnen traten in den nächsten Tagen sogar offen gegen den Streik auf. Auf Initiative der KP-Gewerkschafter/innen wurden folgende Forderungen aufgestellt: 1) Zurückziehung der geplanten Preiserhöhungen oder Verdoppelung der vorgesehenen Erhöhung der Löhne, Pensionen etc. bei voller Steuerfreiheit für diese Erhöhungen, 2) gesetzlicher Preisstopp, 3) keine weitere Schillingabwertung. Falls die Regierung auf diese Forderungen nicht positiv antworte, sollte ab Mittwoch, dem 4. Oktober ein neuerlicher Streik in ganz Österreich beginnen.23
18 IKÖ: Die Kapitalisten sanieren sich auf Kosten der Arbeiter, Spartakist Nr. 23, September 1947, IKÖ: Die Lage und ihre Perspektiven, Spartakist Nr. 42, März 1949 und Peter Haumer: Selbstermächtigung in Österreich: Zwischen Befriedung und Revolte, in: Anna Leder (Hg.): Arbeitskämpfe im Zeichen der Selbstermächtigung, Wien 2011, S. 96-97
19 Haumer 2011, S. 97, Hans Hautmann: Der „Kommunisten-Putsch" 1950. Entstehung und Funktion einer Geschichtslegende, in: Mitteilungen der Alfred-Klahr-Gesellschaft, 17. Jg. / Nr. 3, September 2010, S. 6, Fritz Klenner: Herbst 1950 – Ostösterreich entging dem Eisernen Vorhang, in: Michael Ludwig / Klaus Dieter Mulley / Robert Streibel: Der Oktoberstreik, Wien 1991, S. 57-58 und Stephan Ganglbauer: Niedergeschlagen oder Radikalisiert? Der Streik und die Kräfteverhältnisse zwischen SPÖ und KPÖ, in: Michael Ludwig / Klaus Dieter Mulley / Robert Streibel: Der Oktoberstreik, Wien 1991, S. 94. In der Frage einer möglichen Intervention der US-Armee gegen die Demonstrant/inn/en gehen die Darstellungen auseinander: Laut dem KPler Ganglbauer lehnten die US-Besatzer die Bitte von Figl zur Niederschlagung des Streiks ab, während laut Klenner, dem Haus- und Hofhistoriker der ÖGB-Bürokratie, die USA zur Intervention auf Figls Wunsch bereit waren, aber von Innenminister Helmer und dem Polizeipräsidenten Heinz Holaubek davon abgehalten wurden.
20 Hautmann 2010, S. 6, Ganglbauer 1991, S. 94-95, Haumer 2011, S. 97-99 und Rudolf Streiter: Oktoberstreik 1950, in: Rudolf Streiter: Österreichs Kommunistische Gewerkschafter in der 2. Republik, Wien 1989, zitiert nach: www.kominform.at
21 Ganglbauer 1991, S. 97, Hautmann 2010, S. 6-7 und Haumer 2011, S. 98-99
22 Haumer 2011, S. 99, Hautmann 2010, S. 1 und S. 7 und Ganglbauer 1991, S. 94
23 Haumer 2011, S. 99 und Streiter 1989