Kapitalistische Wirtschaft in der Krise im Jahr 2014 (ein Text von Lutte Ouvrière)


Der vorliegende Text wurde von der französischen trotzkistischen Organisation Lutte Ouvrière (LO) auf ihrem Parteitag im Dezember 2014 angenommen. Wir wollen diesen Text, der von den französischen Genoss/inn/en selbst ins Deutsche übersetzt wurde, hiermit der deutschsprachigen Öffentlichkeit etwas breiter zugänglich machen.

 

Die kapitalistische Wirtschaft in der Krise: weitere Schritte in Richtung Abgrund

 

1. Der kapitalistischen Wirtschaft gelingt es nicht, aus dem Zustand der verschärften Krise herauszukommen, in den sie seit der Finanzkrise 2008 geraten ist – trotz einiger wirklicher oder auch nur eingebildeter Anläufe zu einem Wirtschaftsaufschwung.

2. In der Europäischen Union ist die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Durchschnitt der letzten sechs Jahre bei quasi Null.
Dieser Durchschnitt verschleiert, dass es dabei selbst zwischen den imperialistischen Staaten Westeuropas Unterschiede gibt. Das BIP der gesamten Eurozone war, noch im zweiten Quartal 2014, 2,5% niedriger als zu Beginn des Jahres 2008. In Spanien und Italien betrug der Rückgang 9,1%, beziehungsweise 6,3% (Quelle: Alternatives économiques – Oktober 2014).
Das BIP ist eine ziemlich schwammige Größe. Wichtiger noch sind die Größen, die die industrielle Produktion messen. Und die sind heute deutlich unter dem Stand von vor 2008.
Die Investitionen der privaten Firmen sind nach der Finanzkrise brutal gebremst worden. Sie haben sich davon noch immer nicht erholt. Ein Widerspruch „ohne gleichen seit der Gründung der Eurozone" (Quelle: Centre d'Etudes Prospectives et d'Informations Internationales – CEPII). Dasselbe Institut CEPII fügt hinzu, dass „Europa nicht die einzige betroffene Region ist. Die Schwäche der weltweiten Investitionen wurde auch vom australischen Vorsitz des G20-Gipfels 2014 hervorgehoben. Sie wurde ebenfalls vom IWF als eine Quelle (...) für den möglichen Wachstumsrückgang in der entwickelten Welt".
Und der Chor der herrschenden Politiker rund der Wirtschaftskommentatoren trumpft auf: „Die Investitionen wieder anzukurbeln, das wird also im Jahr 2015 eine der wichtigsten Herausforderungen der Wirtschaftspolitik."
Ja, aber wie?
Die kapitalistischen Betriebe investieren nicht, weil sie nicht daran glauben, dass ihr Absatzmarkt größer werden wird.
Und was die Staaten betrifft, so können sie es nicht, weil sie bereits bis zum Hals in Schulden stecken. Im Gegenteil, sie kürzen und kürzen ihre Ausgaben inklusive notwendiger Ausgaben für Investitionen im öffentlichen Dienst, in der Infrastruktur.

3. Auch Deutschland ist im Jahr 2014 dabei, in die Rezession zu fallen. Einige Jahre lang war Deutschland ein bisschen besser durch die Krise gekommen als die anderen Länder der Europäischen Union. Das deutsche BIP hatte ein relatives Wachstum im Vergleich zu den anderen Ländern der EU, und die Exportstärke der deutschen Wirtschaft wurde zum Beispiel in Frankreich immer wieder als vorbildhaft hervorgehoben – vor allem um mit diesen Reden zu rechtfertigen, warum die französischen Arbeitenden wettbewerbsfähiger werden müssten. Selbst während dieser Jahre jedoch ist Deutschland bei den Investitionen in Verzug geraten.
Die Investitionsrate der Privatwirtschaft ist zwischen 2000 auf 2013 von 21% auf 17% gesunken, trotz der Akkumulation, die diese Exporte ermöglichten.
Der Rückgang der öffentlichen Investitionen ist noch schwerwiegender. 2013 betrug ihr Anteil am BIP nur 1,6%, wesentlich weniger als durchschnittlich in der Eurozone (2,1%). Und der Gipfel: Der Anteil der öffentlichen Investitionen am BIP ist in Deutschland sogar niedriger als in Polen oder in... Griechenland! (Quelle: Statistiken von Eurostat).
Das Ergebnis ist, dass die Infrastruktur in Deutschland sich rapide verschlechtert und dabei ist, ein Handikap für die deutsche Wirtschaft zu werden. Die Zeitschrift Der Spiegel fasst es zusammen: „Die deutsche Industrie liefert hochwertige Autos und Maschinen in die ganze Welt, doch wenn in der Grundschule der Putz bröckelt, müssen die Eltern Geld für einen Anstrich sammeln. Unternehmen und Privathaushalte sitzen auf einem Billionenvermögen, aber jede zweite Autobahnbrücke ist dringend reparaturbedürftig."

4. Deutschland kann sich noch damit brüsten, dass seine Arbeitslosenquote niedriger ist als die durchschnittliche Arbeitslosenquote in der Eurozone. Aber zumindest ein Teil dieser niedrigen Arbeitslosigkeit ist den Hartz-Gesetzen geschuldet, die die Dauer und die Höhe des Arbeitslosengeldes verringert und damit den Arbeitssuchenden unterbezahlte Jobs, Teilzeit- und Mini-Jobs aufgezwungen haben. Der angebliche Sieg über die Arbeitslosigkeit besteht hauptsächlich darin, dass man den deutschen Unternehmern billige Arbeitskräfte geliefert hat.

5. Der Wirtschaftsaufschwung in den USA, den uns die bürgerlichen Ökonomen als Hoffnungsschimmer präsentieren, ist eigentlich nur ein Aufschwung der Profite. Sie haben den höchsten Stand seit 1947 erreicht. Die Unternehmen haben ihre Rekordprofite dafür genutzt, ihre Aktionäre zu bereichern: Im Jahr 2013 haben sie 900 Milliarden Dollar Dividende an die Aktionäre ausgezahlt, rund 100 Milliarden Euro mehr, als sie in den fetten Jahren vor der Krise ausgezahlt haben.
Die 30 Firmen des Dow-Jones-Indexes haben 2013 für 211 Milliarden Dollar ihre eigenen Aktien aufgekauft, zur großen Freude derjenigen, die sie verkauft haben wie auch der übrigen Aktionäre.

6. Für die Arbeitermassen wiegt in der Bilanz der letzten Jahre die Arbeitslosigkeit wesentlich schwerer.
Die Behörden von Obama rühmen sich, dass die Arbeitslosigkeit gesunken sei: 5,9% im September 2014, das bedeutet ein Rückgang von 1,3% innerhalb eines Jahres. Doch das sind immer noch 9,3 Millionen Arbeitslose in der wichtigsten kapitalistischen Wirtschaft der Welt.
In Wahrheit müssen selbst die offiziellen Statistiken zugeben, dass es außerdem 7,1 Millionen gibt, die gezwungenermaßen in Teilzeit arbeiten – oder besser gesagt Teilzeit arbeitslos ist – und dass weitere 2,2 Millionen, entmutigt, keine Arbeit mehr suchen. Die wirkliche Arbeitslosenquote liegt also doppelt so hoch als die verkündeten 6%.
Bezeichnender noch als die Arbeitslosenquote ist die Zahl derjenigen, die in Vollzeit arbeiten. 2007 waren es 121 Millionen. Im September 2014 waren es 119,8 Millionen. Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten sinkt, während gleichzeitig die amerikanische Bevölkerung um 18 Millionen Menschen gewachsen ist.
Die Wahrheit hinter den Manipulationen der Statistik (die selbstverständlich nicht allein von den USA betrieben werden) ist, dass der Anteil der Amerikaner im arbeitsfähigen Alter, die eine Arbeit haben, so niedrig ist wie seit 1978 nicht mehr.

7. Einige Jahre lang wurden einige Schwellenländer als Motor des weltweiten Wachstums besungen. Man hat sie mit dem Kürzel BRICS-Staaten zusammengefasst (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), und manchmal noch die Türkei, Indonesien oder auch Südkorea hinzugefügt. Diese Staaten sind dabei, die Optimisten, die in ihnen eine Hoffnung für die kapitalistische Weltwirtschaft sahen, Lügen zu strafen.
Die offizielle Wachstumsrate Chinas ist noch immer hoch. Aber sie sinkt. Zwischen 2000 und 2010 betrug sie rund 10%; dieses Jahr sind es noch 7%.
Welchen Anteil hat die reale industrielle Entwicklung an diesem Wachstum des BIP, und welchen Anteil der Immobiliensektor mit seinen Preissteigerungen und Spekulationen? In gewisser Weise erinnert die hohe Wachstumsrate des BIP Chinas an die Spaniens vor einigen Jahren, als Spanien sich mit dieser Wachstumsrate an der Spitze Westeuropas tummelte... Bis die Immobilienblase platzte, der Immobiliensektor zusammenbrach, die Bau-Aktivitäten eingestellt wurden und so die gesamte spanische Wirtschaft in die Rezession gerissen wurde.
Und im chinesischen Immobiliensektor, der rund 15% des chinesischen BIP ausmacht, scheint die Krise bereits begonnen zu haben. In zahlreichen Großstädten ist das Volumen der Transaktionen im ersten Quartal 2014 brutal zurückgegangen und hat den Bau-Rausch schlagartig gestoppt. Und angesichts der hohen Verschuldung der Städte, die dieses Immobilienfieber in großem Maß finanziert haben, droht eine schwere Banken- und Finanzkrise.

8. China ist seit einigen Jahren ein Motor für Schwarzafrika und Brasilien. Ein bedeutender Teil der Rohstoffexporte Afrikas bedient mittlerweile die chinesische Nachfrage (50% der Erze, 25% des Rohöls). Was Brasilien betrifft, so gehen 20% seiner Exporte nach China. Bereits die Verlangsamung des chinesischen Wachstums führt daher automatisch zu einem noch bedeutenderen Rückgang in Brasilien. Dies ist einer der Gründe dafür, dass Brasilien in die Rezession abgleitet.

9. Also bekommen die BRICS dieses Jahr Risse. Brasilien ist in einer Rezession, die russische Wirtschaft leidet sowohl unter dem sinkenden Ölpreis (seiner Haupteinnahmequelle) wie auch unter dem Kriegszustand mit der Ukraine und den westlichen Sanktionen. Und Indien hat das niedrigste Wachstum seit 10 Jahren.

10. Der weltweite Rückgang der Produktion führt zu sinkenden Rohstoffpreisen. Der Preisindex für Metalle hat innerhalb eines Jahres 9,6% verloren. Der Preis für Eisenerze ist dieses Jahr um 41% gefallen, sein niedrigster Wert seit 5 Jahren (Quelle: Statistiken MineralInfo).
In diesen Wirtschaftsbereichen wird die Produktion von großen internationalen Konzernen kontrolliert, deren Urtypus die Öl-Industrie ist. Diese Konzerne reagieren auf diese Entwicklung mit der Drosselung ihrer Produktion, was die Schließung von Bergwerken, insbesondere von Eisen-Bergwerken, sowie Entlassungen zur Folge hat, unter die die Wirtschaft der produzierenden Staaten leidet.

11. Die kapitalistischen Konzerne, die hohe Profite einfahren, aber nicht investieren, quellen über vor Liquiditäten. Le Monde Économie hat vor einiger Zeit geschätzt, dass die 2.300 größten Konzerne (die nicht zum Finanzsektor gehören) in den letzten Jahren rund 2000 Milliarden Dollar (1.443 Milliarden Euro) an Liquiditäten angesammelt haben. Eine Zahl, die – wie Le Monde erklärt – „einen schwindelig macht, (da) sie ungefähr dem Bruttoinlandsprodukt Russlands entspricht. Eine gigantische Kriegskasse, die heute nur darauf wartet, investiert zu werden." Mit dem kleinen Unterschied, dass es sich hier nicht um Investitionen handelt, die neue Produktionsmittel schaffen, sondern im besten Fall um den Aufkauf bereits bestehender Firmen und im schlimmsten Fall um spekulative Investitionen. Die Entwicklung der wirtschaftlichen Realität wird durch die Verschiebung der Wortbedeutung verschleiert.

12. Auch wenn sich Produktion und Konsum seit Marx unendlich ausdifferenziert haben und die Finanzmärkte sehr komplex geworden sind – woran die kapitalistische Wirtschaft krankt, das ist der grundlegende Widerspruch ihrer Funktionsweise: der Widerspruch zwischen der unbegrenzten Fähigkeit, die Produktion zu vergrößern – und den Grenzen des Marktes, das heißt den Grenzen der Kaufkraft. Die kapitalistischen Unternehmen haben durch die wachsende Zahl an Arbeitslosen zwar ausreichend Arbeitskräfte zu ihrer Verfügung. Doch sie werden nicht investieren, wenn sie die hergestellten Waren nicht mit Gewinn verkaufen können. Der Weltmarkt jedoch vergrößert sich seit Jahrzehnten nicht mehr, oder zumindest nicht mehr viel. Und seit der Verschärfung der Krise 2008 verringern die gestiegene Arbeitslosigkeit und die zahlreichen Angriffe auf die Kaufkraft der arbeitenden Massen noch den Konsum der großen Masse der Bevölkerung.

13. Dieselben Grundgesetze der kapitalistischen Funktionsweise der Wirtschaft drängen die kapitalistische Klasse beständig dazu, ihre aufgehäuften Profite in Kapital zu verwandeln, von dem man erwarten kann, dass es neue Profite hervorbringt. Da der Markt des Konsums der Volksmassen gesättigt ist, orientieren sich die angehäuften und in Kapital verwandelten Profite immer mehr auf den Finanzsektor. Die aggressiven Angebote, mit denen versucht wird, Konkurrenzunternehmen aufzukaufen, sind ein Teil davon.
Die Zeitung Les Échos stellt fest, dass „die feindlichen Übernahmen einen weltweit historischen Höchststand erreicht haben. Das Motto ‚Angriff ist die beste Verteidigung' setzt sich auf dem Markt der Fusionen und Firmenaufkäufe durch. Seit Beginn des Jahres wurden 545 Milliarden Dollar an vereinigtem Betriebsvermögen in feindlichen Übernahmen anvisiert. Noch nie haben Versuche feindlicher Übernahmen ein solches Ausmaß erreicht, nicht einmal um das Jahr 2000, ganz zu schweigen von 1970."

14. Diese Geschäfte führen, wie in allen kapitalistischen Wirtschaftskrisen, zu einer noch größeren Konzentration des Kapitals. Diese Konzentration führt nicht zu einer Rationalisierung der Produktion. Sie ist vor allem finanzieller Natur. Laut Attac kontrollieren 147 multinationale Großkonzerne 40% der Weltwirtschaft. Die Fähigkeit, seine Finanzkraft durch das Aufsaugen von Konkurrenten zu beweisen, wird ein Faktor der Börsenspekulation.

15. Die aufgehäuften Profite, durch die die Konzerne über beachtliche Liquiditäten verfügen, werden durch die verschärfte Ausbeutung der Arbeitenden geschaffen. Durch das Drücken der Löhne, Flexibilität und verschärfte Arbeitshetze.
Für das Großbürgertum, alleiniger Besitzer der Fabriken, Maschinen und Produktionsmittel, ist die Zerstörung der Existenzbedingungen der Arbeitenden eine absolute Notwendigkeit, um trotz Krise ihr Vermögen zu erhalten und zu vergrößern.
Für die Aktionäre der Konzerne ist die Krise kein Fluch, sondern eine Gelegenheit, die es zu ergreifen gilt. Dank der Krise bekommen die mächtigsten Firmen die schwächeren in die Finger und konzentrieren so die wirtschaftliche Macht in den Händen einer kleiner werdenden Zahl großer Kapitalisten.

16. Die Unfähigkeit der kapitalistischen Wirtschaft, ihre Krise zu überwinden – das ist der eigentliche Grund für die Verschärfung des Klassenkrieges, den die kapitalistische Klasse gegen die Arbeitenden führt und für die Verarmung der Volksmassen, die daraus resultiert.
In diesem Klassenkrieg stehen die Staaten vollkommen auf Seiten des Großbürgertums. Sie verringern nicht nur die wenigen gesetzlichen Leistungen, die in florierenderen Zeiten der kapitalistischen Wirtschaft eingeführt worden sind, um den sozialen Frieden zu erhalten und geben so den privaten Unternehmen alle Mittel in die Hand, um die Ausbeutung zu vergrößern. Die Staaten machen sich auch selber zum Gerichtsvollzieher und kassieren bei der Arbeiterklasse, und allgemein bei der einfachen Bevölkerung, das Geld ein, um damit die Finanz zu füttern.
Alle Staaten der kapitalistischen Welt verfolgen eine Sparpolitik. Hinter den vielfältigen Formen, die diese Politik annimmt, und den verschiedenen verlogenen „Rechtfertigungen" der herrschenden Politiker, die diese Politik durchsetzen, steht derselbe grundsätzliche Mechanismus: Immer größere Summen werden der Bevölkerung weggenommen und in die Kassen des großen Kapitals geleitet.
„Die Schulden zurückzuzahlen" und die Zahlung der Zinsen zu sichern, das ist das Leitmotiv der dekadenten kapitalistischen Wirtschaft in der Krise. Die Staaten setzen dieses Leitmotiv durch und das politische Personal und die Medien nehmen es im Chor auf, als wäre es eine elementare Wahrheit. Hinter diesem Leitmotiv steht das Finanzkapital, das brutal seinen Zehnt von der ganzen Gesellschaft nimmt, ohne überhaupt den Weg über die Produktion und die direkte Ausbeutung zu gehen.

17. Die erste Schlussfolgerung, die die Arbeitenden daraus ziehen müssen, ist, dass die Verschärfung der Ausbeutung gepaart mit dem wachsenden Finanzdruck der Staaten eine Schraube ohne Ende ist. Nichts kann sie bremsen, außer soziale Explosionen, die die bürgerliche Ordnung in ihrer Gesamtheit bedrohen. Jedes Verteidigungsprogramm für die Arbeitenden muss auf dem klaren Bewusstsein beruhen, dass die kapitalistische Klasse in dieser Krisenzeit durch die Funktionsweise ihrer eigenen Wirtschaft dazu gedrängt wird, immer härter die Existenzbedingungen der Arbeiterklasse anzugreifen. Wir haben nichts von dem Bürgertum zu erwarten und auch von keiner politischen Strömung, die sich im Rahmen des Kapitalismus bewegt.
Die Arbeiterklasse wird ihr legitimes Recht auf einen Arbeitsplatz und einen anständigen Lohn nur verteidigen können, wenn sie es im Kampf gegen die Bosse und den Staat durchsetzt. Das Übergangsprogramm, das Trotzki vor mehr als sieben Jahrzehnten in der Zeit einer anderen schweren Krise der kapitalistischen Krise formuliert hat, behält all seine Aktualität. Gegen die Arbeitslosigkeit – Aufteilung der Arbeitsstunden unter allen verfügbaren Armen, ohne Lohnkürzung. Gegen die sinkende Kaufkraft – gleitende Lohnskala und automatische Lohnerhöhung entsprechend der Preissteigerung.
Da diese Forderungen direkt die Diktatur des Kapitals über die Unternehmen in Frage stellen und damit das Privateigentum an den großen Produktionsmitteln, haben sie einen höchst revolutionären Charakter. Das ist der Grund, warum sie von den offenen Verteidigern des kapitalistischen Eigentums bekämpft und von den kritischen Verteidigern des Kapitalismus als utopisch bezeichnet werden.

18. Die Arbeiterklasse steht vor der Notwendigkeit, ihre Existenzbedingungen in diesem Krieg, den das Großbürgertum in diesem Krisenkontext gegen sie führt, zu verteidigen. Doch darüber hinaus stellt sich ihr ein anderes, noch viel größeres Problem.
Die Finanzkrise von 2008, die beinahe zu einer „systemischen Krise" geworden wäre, wie die herrschenden Politiker es nennen, war nur die letzte in den zahlreichen Erschütterungen der kapitalistischen Wirtschaft.
Seit mittlerweile vierzig Jahren geht die kapitalistische Wirtschaft von einer Finanzkrise in die nächste Rezession. Die Krisen werden immer häufiger und sind immer schwerwiegender.
Die Staaten sind ohnmächtig und ihre Regierungen hilflos. Jede politische Initiative, die ein Problem lösen soll, erzeugt ein neues. Es hat keinen brutalen Zusammenbruch wie 1929 gegeben. Die Krise ist jedoch nicht überwunden, sondern nur in die Länge gezogen worden.

19. Kredite zu vergeben, das heißt die Verschuldung zu vergrößern, war der rote Faden aller Initiativen, die der Stagnation des Marktes entgegenwirken sollten. Die Folge ist die ständig wachsende Finanzialisierung der Wirtschaft, die die kapitalistische Wirtschaft erstickt.
Die Verschuldung erreicht eine schier unbegreifliche Größenordnung. Sie ist ein Gradmesser für den Parasitismus des Großkapitals.

20. „Der ausstehende Betrag der weltweiten Schulden hat die Schwelle von 100.000 Milliarden Dollar überschritten.", verkündete die Zeitung Les Échos im März 2014 und beruft sich dabei auf einen Bericht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), eine Art Zentralbank der Zentralbanken. Bei einer solchen Größenordnung verlieren die Zahlen jede Bedeutung. Von diesen 100.000 Milliarden Dollar entfallen allein auf die Schulden der Staaten 43.000 Milliarden. Sie haben sich in gerade mal 12 Jahren um das 2,5fache vervielfältigt!
Anders gesagt, die öffentliche Schuld jedes Menschen auf dem Planeten beträgt 6.142 Dollar! Jedes Neugeborene, selbst die Ärmsten in den ärmsten Ländern, kommen mit dieser Verschuldung auf die Welt! Und gleichzeitig halten die herrschenden Politiker Volksreden über die Notwendigkeit, „die Schulden zurückzuzahlen".

21. Die weltweite Höhe der Schulen scheint irreal, so offensichtlich ist, dass sie niemals zurückgezahlt werden können. So offensichtlich, dass einige Wirtschaftswissenschaftler sich anfangen zu fragen, ob es nicht für das System besser wäre, sie vollkommen oder teilweise zu annullieren. Also im Grunde weltweit das zu machen, was man in der Vergangenheit für einige Länder und vor kurzem für Argentinien gemacht hat.
Der argentinische Staat hat sich 2001 für bankrott erklärt. Seine Gläubiger – die großen Banken – hatten sich nach mehreren Jahren des Gescharere darauf geeinigt, die Schuld Argentiniens zu „umstrukturieren" und dabei die Höhe ihrer Schuldforderungen um 70% zu senken. Besser, man bekommt 30% zurück als gar nichts. Hinzu kam, dass der Bankrott Argentiniens wie ein Schneeball andere Staatsbankrotte hätte nach sich ziehen und zu einer Finanzkatastrophe führen können. Doch wenn auch die Gläubiger von 93% der Schulden dieses Übereinkommen akzeptiert haben, so haben sich ein paar Spekulationsfonds verweigert. Und zumindest einer von ihnen verfügt über die Mittel, eine Armada an Anwälten loszuschicken, um die Rückzahlung seiner Schuldforderungen in ihrer ursprünglichen (nominellen) Höhe zu fordern. Und was die Höhe ist: Die betreffenden Fonds haben selber niemals dem argentinischen Staat Geld geliehen, sondern haben die Schuldpapiere für 50 Millionen Euro auf dem Finanzmarkt gekauft – also zu einem Zeitpunkt, als der Kurs dieser Schuldforderungen auf dem Tiefstand war. Da der nominelle Wert dieser Schuldanerkennungen 800 Millionen Dollar beträgt, haben sie damit einen „bescheidenen" Profit von 1.500% gemacht!
Welche Produktion, welche Investition in die Produktion könnte so viel Profit bringen? Auch wenn diese „Geierfonds" vollkommen unverantwortlich sind, sogar gegenüber dem allgemeinem Interesse des kapitalistischen Systems selber – sie verkörpern die Gesetze und die Werte eines Wirtschaftssystems, in dem der Profit König und das kapitalistische Privatinteresse heilig ist. Als Lenin erklärte, dass ein Kapitalist in der Lage ist, den Strick zu verkaufen, um ihn aufzuhängen, wusste er wovon er sprach.

22. Diese gigantische weltweite Verschuldung wurde im Laufe der Erschütterungen der Wirtschaftskrise angehäuft. Ihre letzte Episode ist der unbegrenzte Kredit, den alle imperialistischen Staaten dem Finanzsystem gewährt haben, als das weltweite Bankensystem 2008 drohte, zusammenzubrechen (in anderer Form werden diese Kredite sowohl von der Zentralbank der USA als auch von der Europäischen Zentralbank weitergeführt). Er ist lebensgefährlich für die Gesellschaft und hat nicht mal irgendeinen Nutzen für die kapitalistische Wirtschaft selber.
Den Tiraden der kleinen und mittleren Kapitalbesitzer nach zu urteilen, ist es schwerer denn je, einen Kredit zu bekommen, obwohl die kapitalistische Welt zur gleichen Zeit über so viel Geld und Kredit jeder Art verfügt wie noch nie. Doch nur die Mächtigsten dürfen dort mitspielen. Der Markt für Schulden und die Vielzahl an Wertpapieren, in denen sie verpackt sind – Titel auf Staatsschulden, Obligationen usw. – ist für diejenigen, die Zugang zu ihm haben, ein gigantischer Ersatzmarkt geworden für die Märkte, auf denen tatsächliche Waren und Dienstleistungen gehandelt werden.

23. Vor mehr als einem Jahrhundert hat der Kapitalismus sein historisches Werk vollbracht: Er hat die Wirtschaft in einem noch nie dagewesenen Grad entwickelt. Doch der heutige Kapitalismus ist dabei, einige Züge der vorkapitalistischen Funktionsweise des Kapitals wieder anzunehmen. Der Wucher ist dabei, die Produktion zu überflügeln. Und dabei geht es nicht um die besondere Verhaltensweise dieses oder jenes Spekulationsfonds, den diejenigen als Geier bezeichnen, die eben nicht den Kapitalismus, sondern nur seine „Exzesse" kritisieren. Es geht um eine grundlegende Tendenz des Kapitalismus von heute. Eine grundlegende Entwicklung, die dazu führt, dass die Krisen nicht einmal mehr ihre frühere, regulierende Rolle in der Wirtschaft spielen (sie regulierten zwar auf brutale Art und Weise, aber immerhin regulierten sie die Wirtschaft). Es ist eine Tatsache, dass die Wirtschaft seit der ersten Überproduktionskrise, die auf die Währungskrisen Anfang der 1970er Jahre folgte, keinen einzigen ernsthaften Aufschwung erlebt hat.
Die heutigen Diskussionen zwischen denen, die die Notwendigkeit von Sparmaßnahmen in den Staatshaushalten betonen, um die Schulden zurückzuzahlen und denen, die eine Ankurbelung der produktiven Investitionen preisen, sind in großem Maß rein theoretische Diskussionen. Das große Kapital ist ebenso daran interessiert, dass die Staaten einen größeren Teil des Budgets für öffentliche Arbeiten zum Nutzen der Kapitalisten ausgeben, wie es an den Finanzströmen interessiert ist, die ihm die Bezahlung der Schulden einbringt. Das Großkapital wählt nicht zwischen den beiden Varianten. Doch sowohl große öffentliche Arbeiten veranlassen wie gleichzeitig mit Zinsen die Summen zurückzahlen, die den Staaten den Finanzmagnaten schulden, das funktioniert nur in engen Grenzen und vergrößert außerdem die steuerliche Belastung. All dies wird nicht dazu führen, dass die Vollbeschäftigung zurückkehrt und ein neuer Wachstumszyklus der produktiven Wirtschaft beginnt.

24. Mögen auch einige Ökonomen das Ersticken der produktiven Wirtschaft durch die Finanz beklagen – das Großbürgertum schert sich nicht darum. Was interessiert es sie, dass das große Kapital im Finanzsektor mehr einbringt als in der Produktion, Hauptsache es bringt was ein! Und egal in welcher Form das große Kapital in Erscheinung tritt, ob als großer produzierender Konzern oder als Bank und „Finanzmarkt" – hinter ihm steht ein und dasselbe Großbürgertum.
Das Großbürgertum schert sich auch darum, dass auch in den Reihen des kleineren und mittleren Bürgertums einige das Opfer dieser Finanzialisierung der Wirtschaft werden und der großen Bedeutung, die die Kredite und Staatssubventionen in ihr bekommen. Gute Miene zum bösen machend, ist die kapitalistische Wirtschaft schon immer ein Dschungel gewesen, auch zwischen den Kapitalbesitzern.
Was das Großbürgertum beunruhigt oder zumindest seine Sprecher, die bei ihren Überlegungen von den allgemeinen Interessen ihrer Klasse auszugehen versuchen, das ist die Gefahr, dass diese Anhäufung von Schulden und Krediten letztlich in eine Finanzkrise mündet, die diesmal tatsächlich „systemisch" ist. Anders ausgedrückt, dass die kapitalistische Wirtschaft erneut das Katastrophenszenario vom berühmten Schwarzen Donnerstag im Jahr 1929 durchlebt, und zwar in schlimmer.

25. Alle Wirtschaftskommentatoren, oder zumindest fast alle, erwarten einen Crash. Doch sie haben nicht die mindeste Ahnung zu haben, wo als erstes eine ihrer zahlreichen Blasen, die die unzähligen riesigen Finanzspritzen der Zentralbanken geschaffen haben, platzen wird. Auf den Rentenmärkten? Bei den Aktien? Den Spekulationen auf Wechselkurse? Auf dem Markt für Staatsschulden? Bei den Derivaten, das heißt bei diesen Versicherungsverträgen gegen die Unwägbarkeiten der Spekulation, die ihrerseits selber mit der Zeit eine der gefährlichsten Träger der Spekulation geworden sind?
Oder auf dem Immobilienmarkt, der bereits Ausgangspunkt der Finanzkrise von 2008 gewesen war? Und der erneut immer mehr spekulatives Kapital anzieht, das die Immobilienpreise in die Höhe schießen lässt? Die Immobilienwerte gelten seit jeher als „sichere Werte" und „in Stein investieren" als eine Investition für „gute Familienväter". Gerade deshalb werden sie zu Spekulationsobjekten in der finanzialisierten Wirtschaft, in der täglich beachtliche Kapitalmengen auf der Suche nach einträglichen Anlagen umherwandern. Mit der Globalisierung der Finanz hat sich auch der Immobilienmarkt genauso dem internationalen Kapital geöffnet wie alle anderen Märkte. Die Immobilien-Investmentgesellschaften haben sich bedeutend vermehrt – mit Wertpapieren, die man kaufen und verkaufen kann und die ihrerseits die Spekulation befördern.
Auch ohne dass eine Spekulationsblase im Immobiliensektor platzt, bezahlt die arbeitende Bevölkerung teuer die Folgen der Spekulation, die die Preise in die Höhe treibt. Der Kapitalismus war noch nie in der Lage, die „Wohnungsfrage", die so lebenswichtig für die Arbeitenden ist, befriedigend zu lösen. Doch die Finanzialisierung der Wirtschaft und die Preissteigerungen, die die Spekulation hervorruft, verleihen dieser Frage einen dramatischen Charakter.

26. Vor fast einem Jahrhundert, als die imperialistischen Rivalitäten den Planeten in den 1. Weltkrieg getrieben haben, bezeichnete Lenin den Imperialismus als „verfaulendes Stadium des Kapitalismus." Da er vom revolutionären Proletariat nicht zerstört worden ist, überlebt der altersschwache Kapitalismus weiterhin. Die Gesetze der Biologie lassen sich nicht auf die menschliche Gesellschaft übertragen. Eine soziale Organisationsform – auch wenn sie seit langem anachronistisch und senil geworden ist – wird erst dann verschwinden, wenn die von ihr profitierende privilegierte Klasse von einer sozialen Klasse gestürzt wird, die Träger einer neuen, höheren Form der gesellschaftlichen Organisation sind. Die Menschheit hat die Verspätung der sozialen Revolution bezahlt mit der Krise von 1929, der Barbarei der Nazis, einem zweiten Weltkrieg und, nach drei Jahrzehnten relativer Beruhigung, mit einer neuen wirtschaftlichen Krise und dem außergewöhnlichen Wachstum des Finanzparasitismus samt aller Gefahren, die es birgt.

27. Die Frage, die sich der Gesellschaft stellt, übersteigt daher bei weitem die Notwendigkeit, die Existenzbedingungen der Arbeiterklasse zu verteidigen – der entscheidenden produktiven Klasse der Gesellschaft. Die Frage, die sich ihr stellt, ist die der Zukunft der Menschheit.
Die Gesellschaft kann sich auf der Grundlage des Kapitalismus nicht mehr entwickeln. Die Zukunft der Menschheit wird von der Fähigkeit der Arbeiterklasse abhängen, sich auf die Höhe der historischen Aufgabe zu erheben, die ihr obliegt und bei der sie keine andere soziale Kraft ersetzen kann: die Aufgabe, die Herrschaft des Großbürgertums zu stürzen und die kapitalistische Wirtschaft durch eine wirtschaftliche Organisation zu ersetzen, die es der Menschheit ermöglicht, wieder vorwärts zu schreiten.

21. Oktober 2014

 

Plakate


Plakat 9.jpg

Publikationen